Zahlreiche Schülerinnen und Schüler haben Probleme mit der Handschrift, Erwachsene tippen meist auf Tastaturen und Finnland schafft die Schreibschrift ab. Doch wenn die Handschrift richtig gelehrt wird, hat sie viele Vorteile – auch für den Fremdsprachenunterricht, sagt der Schreibmotorikexperte Christian Marquardt.
Dr. Marquardt, trotz digitaler Möglichkeiten wird in der Schule die Handschrift gelehrt. Warum?
Das Handschreiben ist eine sehr komplexe Tätigkeit, bei der mehrere Areale im Gehirn gefordert werden: Es fördert die Rechtschreibfähigkeit, das Wortgedächtnis und die Fähigkeit, zu formulieren. Deshalb hat das Handschreiben im Rahmen des Schriftspracherwerbs in der Schule eine sehr große Bedeutung. Wer heute davon spricht, es durch Tippen zu ersetzen, muss bedenken, welche weitreichenden Konsequenzen das auf andere Lernprozesse hat. Das Handschreiben darf nicht zur Diskussion gestellt werden, nur weil es Probleme gibt.
Welche Probleme sind das?
Laut einer Lehrerumfrage, die das Schreibmotorik Institut mit dem Deutschen Lehrerverband 2015 durchgeführt hat, haben die Hälfte der Jungen und ein Drittel der Mädchen starke Probleme mit dem Schreiben. Die Kinder und Jugendlichen schreiben verkrampft, unleserlich, zu langsam und ermüden schnell. Das im Lehrplan formulierte Ziel, der Erwerb einer lesbaren und flüssigen Handschrift, wird nicht erreicht.
Aus welchen Gründen haben viele Kinder Schwierigkeiten, lesbar und flüssig zu schreiben?
Schreibprobleme sind zumeist Probleme der Schreibmotorik. Deshalb sollte diese von Anfang an stärker in den Vordergrund gerückt werden. Bisher stellen die Ausgangsschriften vor allem die Form und Genauigkeit der Buchstaben in den Mittelpunkt. Das widerspricht jedoch den Prinzipien des motorischen Lernens, denn zu Beginn können Bewegungen nicht exakt ausgeführt werden. Auch Kinder, die Laufen lernen, werden am Anfang oft hinfallen. Beim Schreiben sollen Kinder jedoch durch perfektes Kopieren der Buchstaben in Zeitlupe eine gute Schrift erlernen. Das kann so aber nicht funktionieren, weil dabei wichtige motorische Aspekte des Schreibens wie Rhythmus und Schreibfluss vernachlässigt werden.
Warum findet dann die Schreibmotorik im Unterricht bislang so wenig Beachtung?
Wir vom Schreibmotorik Institut glauben, dass es auch damit zu tun hat, dass Schreibenlernen einen erzieherischen Aspekt hat. Man gibt Kindern Regeln vor und sie sollen sich daran halten. Viele Eltern und Lehrer runzeln die Stirn, wenn man ihnen erklärt, dass Schreibmotorik freier gelernt werden muss, dass wir Kindern erlauben müssen, selbst auszuprobieren, wie es am besten funktioniert. Schreiben ist natürlich auch ein Kulturgut. Es gibt viele Traditionalisten, die befürchten, dass das Handschreiben verschwindet, wenn wir es modernisieren. Aber das Gegenteil ist der Fall.
Worin liegt der Unterschied, ob wir etwas über eine Tastatur eintippen oder aber einen Satz von Hand schreiben?
Das Tippen ist eher ein mechanischer Prozess, um eine Information zu speichern. Das Schreiben hingegen ist ein individuellerer Prozess, der die Schreibenden stärker an der Formulierung des Inhalts beteiligt. Studien belegen, dass es eine Wechselwirkung zwischen kognitiven und motorischen Vorgängen gibt, die dazu führt, dass die Informationen beim Handschreiben besser verarbeitet werden. Warum, das ist sicher eine Frage, die noch näher untersucht werden muss.
Ist das nicht auch ein interessanter Punkt für Deutsch als Fremdsprache und Deutsch als Zweitsprache oder den Fremdsprachenunterricht allgemein?
Natürlich. Wir glauben, dass durch das Schreiben in diesem Bereich sehr viele positive Transfereffekte möglich sind. Wenn Schülerinnen und Schüler neue Wörter mit der Hand aufschreiben, erinnern sie sich besser daran. Je intensiver sich die Lernenden handschriftlich mit Formulierungen, den Inhalten und auch mit der Grammatik beschäftigen, desto besser wird die neue Sprache im Gehirn verankert.
In Deutschland wird häufig kritisiert, dass zu selten digitale Medien im Unterricht eingesetzt werden, und die Kinder auch lernen sollen, auf einer Tastatur zu schreiben. Wie stehen Sie dazu?
Das Handschreiben hat in vielen Bereichen große Vorteile, das digitale Schreiben in anderen. Beim Schriftspracherwerb sollte die Handschrift aber an erster Stelle stehen. Zu einem späteren Zeitpunkt, wenn das Schreiben und alles was dazugehört – Lesen, Grammatik, Formulierung, Wortgedächtnis – gut entwickelt sind, sollte ganz strukturiert der Umgang mit digitalen Medien thematisiert werden.
Handlettering liegt gerade im Trend in Deutschland: Erwachsene üben Schönschrift und Kalligrafie. Doch davon einmal abgesehen: Was nutzt uns das Handschreiben im Alltag?
Das Handschreiben ist die perfekte Methode, Sachverhalte und Ideen zu strukturieren, Notizen zu machen, Dinge persönlich zu gestalten. Ich benötige dazu kein elektronisches Gerät, muss es nicht anschalten oder den Akku laden. Es hat aber auch mit einer philosophischen Frage zu tun, wie wir unser Leben gestalten möchten: Wollen wir unsere ganzen Fertigkeiten, die uns ja auch als Mensch ausmachen, einfach aufgeben, nur weil immer mehr auch elektronisch oder automatisch möglich ist?
Dr. Christian Marquardt ist Motorik- und Handschriftexperte und forscht seit mehr als 25 Jahren an den motorischen Grundlagen des Schreibens. Seit der Gründung des Schreibmotorik Instituts im Jahr 2012 ist er dort als wissenschaftlicher Beirat für Motorik tätig.
Handschrift: „Sehr viele positive Transfereffekte“ auf www.goethe.de lesen
Erschienen im Mai 2017 auf www.goethe.de